Leben statt überleben
Es wurde bereits darauf eingegangen, dass Energie die Basis des Lebens ist und dass Stress dazu führt, dass der Körper mit Hilfe der Nebennieren Energie zunächst mobilisiert und dann, wenn nötig, konserviert.
Dieser Zustand des Überlebens ist von der Natur her nur als kurzzeitiger Zustand eingerichtet worden. Chronischer Stress führt jedoch dazu, dass die meisten Menschen schon lange oder sogar schon immer in einem Zustand des Überlebens verweilen.
Ursachen für diesen Stress gibt es viele: Nährstoffmängel, epigenetische Störungen, Bindungstraumata, unzuträgliche Lebensführung und noch vieles mehr.
Die Antwort des Körpers auf Stress wird jedoch immer gleich ausfallen. Er hat weit reichende Konsequenzen auf alle Regelsysteme.
Und da Wachstum und Entwicklung eine ausreichende Energieversorgung benötigen, sind Dauerstreß und der darauf folgende permanente Zustand des Überlebens im Grunde die größte Entwicklungsblockade überhaupt.
Überleben
Der Zustand des Überlebens zieht in den Regelsystemen folgende Konsequenzen nach sich:
Energiesystem
Primärer Brennstoff des Mitochondriums ist Glukose (Zucker), die Hauptaufgabe von Kohlenhydraten die Energieproduktion.1Braun, Pathophysiology, 2017, Kindle-Position 15727-15728 Ein gesundes Mitochondrium stellt daraus 36 ATP her, 2Starr, Biology, Concepts and Applications, 1997, S. 99 ein krankes hingegen im schlimmsten Falle 0. Der Körper greift im Notfall jedoch in die Trickkiste und beschreitet alternative Stoffwechselwege: Mit der anaeroben Glykolyse ringt er der Glukose außerhalb des Mitochondriums immerhin noch 2 ATP ab.3siehe Glykolyse, Silbernagl & Despopoulos, Taschenatlas Physiologie, 2012[
Wieder einmal ist es Stress, der diesen massiven Verlust in der Energieproduktion bewirkt. Wie bereits beschrieben, wird der Stoffwechsel im Überlebensmodus langsamer, um Energie zu konservieren, bis schlimmstenfalls nur noch 5 Prozent der ursprünglichen Energie aus einem Zuckermolekül gewonnen werden können.
Außerdem machen Zellen bei Stress “dicht”, da sich die Zelle so gegen das Eindringen potentiell schädlicher Stoffe schützen kann. Wird jedoch die Zellmembran undurchlässig, können auch Nährstoffe nicht mehr ausreichend in die Zelle eindringen. Auch Stoffwechselendprodukte können nicht mehr ausreichend aus der Zelle austreten.4Lipton, Intelligente Zellen, 2006, S. 145 Dies gilt nicht nur für Glukose, sondern auch für Mineralstoffe und Vitamine. Langanhaltender Stress führt somit dazu, dass Mangelernährung die Zelle dauerhaft ihrer Nährstoffe beraubt, was die Unfähigkeit der Zelle Energie zu produzieren aufrecht erhält.
Epigenetik
Ob Gene aktiviert oder deaktiviert werden bestimmt sich über Signale aus der Zelle selber, der Umwelt oder dem Gesamtorganismus.5Bauer, Das Gedächtnis des Körpers, 2016, S. 242 Nur 2 Prozent aller Erkrankungen sind wirklich genetischer Natur, 98 Prozent der Erkrankungen hingegen sind epigenetisch bedingt6Bauer, Das Gedächtnis des Körpers, 2016, S. 234 und somit durch unser Erleben beeinflussbar. Dies gilt insbesondere für Gene, die für Gesundheit oder Krankheit zuständig sind.7Bauer, Das Gedächtnis des Körpers, 2016, S. 222
Stress aktiviert ein bestimmtes Stressgen (CRH Gen), welches wiederum andere Körperareale für den Stress sensibilisiert. Positive und anregende Erlebnisse hingegen sorgen für das Wachstum von Nervenzellen unter anderem.mfn]Bauer, Das Gedächtnis des Körpers, 2016, S. 241[/mfn] Damit können seelische Erlebnisse innerhalb von Minuten Gene an- oder abschalten.8Bauer, Das Gedächtnis des Körpers, 2016, S. 240
Da epigenetische Veränderungen auch vererbt werden können, kann es durchaus sein, dass ein Individuum bereits ab dem Zeitpunkt der Zeugung seinen Genausdruck auf Stress programmiert hat. Somit erlangt man von seinen Vorfahren nicht nur die Prädisposition für bestimmte Erkrankungen, sondern erwirbt unter Umständen genetisch programmierte Stressmuster und Traumata seiner Vorfahren.9van der Kalk, The Body Keeps the Score, 2014 f, Kindle-Position 2707 Ähnliches gilt für bestimmte Nährstoffmängel, die einst von den Vorfahren stressbedingt erworben wurden und nun an die Nachfahren weiter gegeben und von Generation zu Generation potenziert werden können. Dies kann dann zu permanenten Nährstoffdefiziten führen, die mit gesunder Ernährung nicht ansatzweise mehr zu decken sind, was wiederum zu einer mangelhaften Energieproduktion oder auch einer Prädisposition für psychische Erkrankungen führen kann.10Walsh, Nutrient Power, 2014 f, S. 4
Nervensystem
Stress hat in einem System, welches sich noch nicht selbst regulieren kann, eine außer Verhältnis mäßig große Wirkung. Solange das Nervensystem durch persistierende frühkindliche Reflexe organisch noch nicht dazu in der Lage ist sich der Kommunikationsstrategien zu bedienen, die einem das Myelinisierte Vagussystem ermöglicht, ist es kaum möglich aus dem Überlebensmuster auszusteigen.
Gleichzeitig kann selbst ein gut entwickeltes organisches Nervensystem durch Traumatisierung auf die Überlebensstrategien hierarchisch untergeordneter Hirnregionen zurück geworfen werden. Durch Traumatisierung bleibt das System in den Abwehrreaktionen Kampf, Flucht, Starre stecken. Diese können sich auch als verstecken, vermeiden oder unterwerfen zeigen.
Doch auch der Frontal Kortex wird durch Trauma beeinträchtigt. Dies ist der Anteil des Gehirns, der bei nicht traumatisierten und voll entwickelten Individuen für den freien Willen und die wahrhaftig vernünftige Entscheidung zuständig ist. Der Frontal Kortex wird durch Traumatisierungen geprägt, die sich dann als negative Glaubenssätze verankern.
Negative Glaubenssätze
Typische Glaubenssätze, die mit einer Traumatisierung einher gehen können lauten:
- Ich existiere nicht
- Ich werde sterben
- Ich bin ein Versager
- Meine Eltern lieben mich nicht
Sollte Traumatisierung im symbiotischen Stadium erfolgen, kommt es kognitiv zu einem weiteren Phänomen: dem sogenannten „locus of control shift“. Dieser Mechanismus wird getriggert sobald das Kind intra-uterin oder in den ersten Lebensjahren nicht ausreichend gut gebunden ist, weil es überwältigendem Stress und/oder einer Bedrohung durch die Eltern ausgesetzt worden ist.
Der “locus of control shift” führt dazu, dass ein Mensch bewusst, häufig aber auch unbewusst, davon ausgeht, dass er oder sie alles Schlechte (insbesondere die mangelnde Bindung) auch verdient hat. Konsequenz dieser frühen Prägung ist oft ein Arbeiten gegen sich selbst. 11Schwarz et al, The Comprehensive Resource Model, 2017, Kindle-Position 4541
Selbst Sabotage
Diese Selbst-Sabotage kann sich in allen Formen selbst-zerstörerischen Verhaltens äußern, meiner Erfahrung nach auch in Form von auto-immunen Erkrankungen, die ja nüchtern betrachtet auch eine Form von Selbst-Zerstörung darstellen.
Mehr dazu finden Sie auf der Seite www.crm-traumatherapie.de.
Damit sorgt Stress einerseits dafür, dass sich das Nervensystem gar nicht erst entwickelt. Ein nicht entwickeltes Nervensystem wiederum ist mangels Selbstregulation in hohem Maße Stressanfällig. Dieser Teufelskreis des Überlebens bietet natürlich der eigenen Individuation und der Persönlichkeitsentwicklung kaum eine gute Grundlage, weil Reife und Selbstregulation auf diese Weise nicht eintreten können.
Hormonsystem
Im Hormonsystem führt Stress zu einer Dominanz der Nebennieren, wie bereits erläutert worden ist. Dies führt mittel- bis langfristig zu einer Unterfunktion der Schilddrüse und einer Erschöpfung der Nebennieren. Die Erschöpfung der Nebennieren läuft in Stadien ab, wobei die Schulmedizin zur Zeit nur das organische Versagen der Nebennieren anerkennt (Addison Krise oder Erkrankung):
Hier noch einmal eine Übersicht, die zeigt, wie sich das Verhältnis der Steroidhormone zueinander verschiebt, wenn Stress am Werk ist:
Chronischer Stress erzeugt Hormonstörungen
Chronischer Stress führt somit zu Erscheinungen, die im allgemein als “Hormonstörungen” bezeichnet werden. Hier findet sich die ganze Palette an Hormonerkrankungen wieder, mit denen Betroffene in die Praxen kommen. Bei den Geschlechtshormonen sind dies Östrogendominanz, Mangel an Progesteron und DHEA. Es zeigen sich Probleme der Nebennieren, in denen Kortisol erst zu viel, dann zu wenig ausgeschüttet wird. Adrenalin wird im System immer dominanter, weil es die Stellung in einem System halten muss, was von einer Perspektive der Energieproduktion auf dem Notaggregat des Notaggregats läuft. Die Schilddrüsenhormone, die ja den Grundumsatz anfeuern und auch ansonsten Wachstumsprozesse koordinieren kommen so natürlich kaum zum Zuge. Selbst vorübergehende Überfunktionen der Schilddrüse sind aus dieser Perspektive als letztes Aufbäumen eines zusammen brechenden Energiesystems zu verstehen. Mehr zum Thema hormonelle Störungen finden Sie auf meiner Seite www.natuerliche-hormonregulation.de und in meinem Buch Wege aus der Hormonfalle.
Stress wirkt Wachstum entgegen
Die hormonelle Verschiebung der Hormone in den chronischen Überlebensmodus hat meiner Ansicht nach nicht nur eine Auswirkung auf organisches Wachstum und Fortpflanzung. Betrachtet man den wechselseitigen Bezug von Körper, Geist und Seele und der Regelsysteme untereinander, wird klar, dass sich hier einfach nur eine weitere Facette dessen abbildet, was schon für das Nervensystem erörtert wurde: „Stress ist zusätzlich zu seiner Existenz auch die Ursache von sich selbst und das Ergebnis von sich selbst”12Dieses Zitat soll auf ein Zitat des Stressforschers Hans Selye, 1951 zurück gehen. Chronischer Stress verhindert das Erreichen der Fähigkeit zur Selbstregulation, mangelnde Selbstregulation perpetuiert die Dominanz der Nebennieren mit all ihren Konsequenzen. Auf der Strecke bleiben Kreativität und Selbstausdruck, die auf organischer Ebene meiner Ansicht nach durch die Geschlechtsdrüsen und die Schilddrüse repräsentiert werden.
Immunsystem
Auch das Immunsystem wird durch Stress erheblich beeinträchtigt. Grundsätzlich erledigen die weißen Blutkörperchen die Hauptaufgaben der zellulären Abwehr des Immunsystems. Sie kommunizieren durch Botenstoffe miteinander, sodass die einzelnen Abwehrzellen genau wissen, was sie zu tun haben. Ein Teil der weißen Blutkörperchen ist ständig im Körper unterwegs, um eindringende Mikroorganismen unschädlich zu machen.[
Unter Stress kommt es zu Verschiebungen der genannten Mechanismen. Stresshormone lassen die Immunabwehr unter- oder überaktiv werden.
Kortisol unterdrückt überschiessende Immunreaktionen
Das Stresshormon Kortisol ist in Notzeiten unter anderem dafür zuständig, übermäßige Immunreaktionen zu unterdrücken, indem es das lymphatische System drosselt13Berghold et al., Biochemie des Menschen, 2015, S. 367– aus diesem Grund bekommt ein Allergiker vom Arzt im Fall des Falles Kortison, eine Form des Kortisols. Es ist wichtig zu verstehen, dass Infektionen unter Einfluss von Kortisol vom Körper trotzdem durchgemacht werden, man spürt sie bloß nicht so sehr. Damit sind Menschen, die nie krank werden, nicht auch unbedingt die Gesünderen. In Anfangsstadien des chronischen Stresses werden Menschen am Wochenende oder im Urlaub krank, nämlich dann, wenn ihr Kortisolspiegel sinkt. In späteren Stressstadien, wenn der Körper durch eine Erschöpfung der Nebenniere nur noch wenig Kortisol produziert, kann das Immunsystem immer schlechter reagieren. Kortisolmangel lässt das Immunsystem prinzipiell überreagieren, einige seiner Bestandteile verhalten sich allerdings genau gegensätzlich und reagieren fast gar nicht mehr.14Fries et al., A New View on Hypocortisolism, 2005 Es kommt im Körper zu heimlichen Infektionen.
Östrogendominanz begünstigt die Bildung von Auto-Antikörpern
Ein Zuviel an Östrogen kann die Arbeit der weißen Blutkörperchen dermaßen beeinflussen, dass die Bildung von Auto-Antikörpern begünstigt wird,15Rink, Kruse, & Haase, Immunologie für Einsteiger, 2015, Kindle Positionen 6011-6019 wodurch Auto-Immunkrankheiten wie Hashimoto-Thyreoiditis, Rheuma usw. begünstigt werden können.
Verschiebung der TH1/TH2 Achse: Viren gegen Bakterien
Das Immunsystem lässt sich grob in zwei Äste unterteilen, von denen der erste (TH 1) eher Viren und intrazelluläre Bakterien (z. B. Borrelien oder Chlamydien) bekämpft, während der zweite (TH 2) sich eher um die Immunreaktion bei allergischen Geschehnissen und Parasitenbesuch oder um extrazelluläre Bakterien kümmert.
Ist der Kortisolspiegel hoch, wird die Aktivität von TH 1 gebremst.16Elenkov et al., Stress Hormones, Th1/Th2 patterns, Pro/Anti-inflammatory Cytokines and Susceptibility to Disease, 1999 Der betroffene Mensch wird jetzt zu chronischen viralen oder bakteriellen Infekten neigen.
Wird ein Ast überaktiv, wird der andere gehemmt. In der Regel ist TH 2 überaktiv, womit TH 1 auf die Bank geschickt wird. Der betroffene Mensch reagiert also wahrscheinlich mit chronisch-viralen Infekten, wie z. B. Gürtelrose bei reaktivierten Windpocken, EBV und Zytomegalie. Viren können innerhalb der körpereigenen Zellen überleben und sind deswegen schwer von dem Körper zu identifizieren. Ist TH 2 aktiv, gelangen die in den Zellen versteckten Viren ins Blut, vermehren sich und überfallen den Körper. Auch manche Bakterien verstecken sich in den Zellen, wie z. B. Borrelien. Diese Bakterien finden sich daher so oft als chronische Infektionen in Körpern von gestressten Menschen wieder.
Auch beim Immunsystem zeigen sich die engen Verschränkungen mit Nerven- und Hormonsystem. Ist der Schalter erst einmal auf Stress und “locus of control shift” gestellt, wendet sich das Immunsystem gerne gegen einen selber, anstatt sinnvolle Gefahrenabwehr zu betreiben.
Vom Überleben ins Leben
Die Möglichkeit den Körper bei Energiemangel in einen Stand-by-Modus zu versetzen ist für das Überleben des Einzelnen und auch der Spezies Mensch eine kluge Strategie. Genauso wichtig sind im menschlichen Zusammenleben und in der Interaktion mit der Umwelt Fähigkeiten wie instinkthafte Abwehr, Abgrenzung und notfalls auch Gewaltanwendung. Die Abwertung dieser Mechanismen, wie sie vielfach in der sogenannten zivilisierten Welt betrieben wird, ist ein Grunde ein gutes Beispiel für eine Gesellschaft, die wenig von Integraler Evolution weiß.
Im Überlebensmodus stecken geblieben
Zur Zeit ist die überwiegende Anzahl der Individuen in einem Stadium des Überlebens gefangen, wodurch in persönlichen Beziehungen als auch gesellschaftlich Rückzug oder Angriff vorherrschen, statt persönliche Individuation und zwischenmenschliche Kommunikation und Kooperation.
Der Zustand des Überlebens herrscht als ein “default mode” vor, obwohl objektiv zumindest in der westlichen und Teilen der östlichen Welt keine Gefahr mehr für das physische Überleben von Individuen besteht. Grund dafür ist die Einrichtung von Stressmechanismen seitens der Natur einerseits und einer mangelnden Reifung des Individuums andererseits. Offenbar begünstigt materieller Überfluss den Prozesse der Reifung nicht automatisch. Schließlich leben wir in einer Gesellschaft, die vom sozialen Bewusstsein her im Raubkapitalismus stecken geblieben ist und emotional zwischen symbiotischer Verstrickung und Mustern von Dominanz und Unterwerfung oszilliert.
Der Weg ins eigene Leben
Der einzige Ausweg für Individuen und die Gesellschaft als Ganzes ist meiner Ansicht nach die Aufarbeitung aller Faktoren die uns in der biologischen und emotionalen Unreife halten, und damit Selbstregulation und wahre persönliche Entwicklung verhindern.
Die Fähigkeit des Überlebens ist eine notwendige Fähigkeit für die Existenz in einer dualen Welt, in welcher endliche Ressourcen, Gut und Böse, Leben und Tod zwangsläufig nebeneinander existieren. Als Individuen und Gesellschaft kann es also nur darum gehen, immer wieder ein gutes Verhältnis zwischen Ich und Du, Egoismus und Altruismus herzustellen.
Ein verweilen im Überlebensmodus ist auch einfach eine Riesen Verschwendung von individuellen und kollektiven Ressourcen. Dies gilt sowohl für Träger materieller Energie wie auch für menschliches Potential.
So gesehen ist der Überlebensmodus ein notwendiger Entwicklungsschritt vor dem Modus des Lebens. Erst nachdem wir zu überleben gelernt haben, können wir das Leben erlernen. Im Lebensmodus fängt die eigentliche Entfaltung des Individuums an, welches auf der Grundlage eines gut regulierten Körpers und einer gut regulierten Gesellschaft seine individuellen Gaben in die Welt bringen kann. Erst im Lebensmodus agieren Körper, Geist und Seele wirklich als Einheit. Erst dann fängt Persönlichkeitsentwicklung an.
Bedürfnishierarchie als Evolutionsmodell
Ähnlich hat das schon Maslov mit seiner Bedürfnispyramide gesehen (Darstellung nach modernen psychologischen Standards):
Das Ende der Hirndominanz
Meiner persönlichen Überzeugung nach endet in einem System, was zur Selbstregulation fähig ist, auch die Dominanz des Gehirns. Während seine ursprüngliche Aufgabe mit dem Nervensystem zusammen in einem gesunden und gut regulierten System die Kommunikation und Interaktion mit der Umwelt darstellt, so schwingt es sich im (chronischen) Stress zum ängstlichen Tyrannen auf und denkt, es wäre das Maß aller Dinge. Instinkte, Emotionen, und auch höhere Persönlichkeitsanteile kommen entweder nicht zum Zuge oder werden im Sinne des Gehirns instrumentalisiert. Dies verstehe ich unter Ego Struktur. Das Ego ist eine auf Trauma und Angst basierte Persönlichkeitsstruktur, die gut integriert ein wichtiges Instrument für das Leben in der Dualität darstellt. “Das Gehirn kontrolliert das Verhalten der Körperzellen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt den man berücksichtigen sollten, wenn wir die Zellen unserer Organe und Gewebe für die Gesundheitsprobleme verantwortlich machen, die wir erleben.”17Lipton, Intelligente Zellen, 2006, Kindle Position 2246 Läuft etwas im Körper also nicht so wie wir es gerne hätten, lässt der Körper uns nicht im Stich, sondern wir ihn.
Verankerung höherer Wesensanteile
Wenn ich von höheren Persönlichkeitsanteilen spreche, meine ich persönlich auch Anteile, die nicht dual sind und somit auch Zeit und Raum nicht unterliegen. Manche Menschen nennen diesen Anteil Seele oder höheres Selbst. Meiner Überzeugung nach kommen von dort die Impulse für eine Individuation in der materiellen Welt. Allerdings muss man diese Überzeugung nicht teilen um meinen Ausführungen über die Mechanismen der Integralen Evolution einen Sinn abzugewinnen, denke ich.
Leben
Was genau zeichnet also den Zustand des Lebens aus?
Während es kaum prominente Beispiele für eine wirklich gelungene Integrale Evolution im hiesigen Sinne gibt, haben viele Menschen eine Ahnung davon wie es sein könnte.
Oft sind es einzelne Glücksmomente, die sich durch das Erreichen eines Lebensziels, die Vollendung eines Werkes, der Geburt eines Kindes oder bei Verliebtheit einstellen.
Oder man erinnert sich an Entscheidungen, die sich im Nachhinein als klug für den eigenen Lebensweg herausgestellt haben. Diese werden dann unter Umständen als einen seltenen Augenblick innerer Führung empfunden.
Macht über das eigene Leben
Dabei sind Intuition und innere Führung Kennzeichnung eines reifen und zur Individuation fähigen Systems: Man weiß was man will und setzt dies auch um.
Selbstregulation bedeutet, dass Psyche, Nervensystem, Immunsystem und alle anderen körperlichen Systeme miteinander arbeiten und damit auch für anstatt gegen uns. Dies bedeutet auch, dass man nicht mehr so viel Zeit und Mühe dafür aufwenden muss sich von Stress zu beruhigen, sich von Stress zu erholen, sich von anderen abzugrenzen, seinen Willen kund zu tun.
Dafür ist meiner Ansicht nach das Unterbewusstsein wirklich zuständig und nicht einfach nur zur Speicherung unserer Traumata und Abwehrstrategien. Im Idealfall reguliert die gesunde Form des Ego interne Prozesse durch eine sinnvolle Kooperation aller Regelsysteme höchst effektiv. Damit müssen wir nicht mehr darüber nachdenken, ob wir uns nun von dem Gegenüber abgrenzen wollen, sollen oder nicht. Es passiert einfach. Wir müssen keine Atemübungen mehr machen um uns von Stress zu beruhigen, es passiert einfach. Wir müssen uns nicht mehr lange auf neue Situationen einstellen. Es passiert einfach. Damit regelt das Unterbewusstsein die Pflicht, damit unserer Vernunft der Rücken für die Kür frei gehalten wird.
Leben in Fülle
In vielerlei Hinsicht ist der Lebensmodus für mich das, was mittlerweile fast als geflügeltes Wort “Leben in Fülle” genannt wird. Er geht zurück auf den zehnten Vers des Johannes Evangeliums der Bibel, in dem das Leben des guten Hirten der Existenz eines räuberischen Sünders gegenübergestellt wird: „Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ Heute steht „Leben in Fülle“ für ein Lebensgefühl, in dem Kargheit, Askese und Aufopferung keinen Platz haben. Es wird eine lustbedingte Existenz einer schmerzbedingten Existenz gegenübergestellt. Man will sich eben nicht mehr ein Leben lang durch Krankheit und Elend quälen, nur um anschließend im Paradies Erfüllung und Ekstase zu finden. Es geht um die Erfüllung der eigenen Entwicklungsaufgabe, die sich dann in der Lebensaufgabe niederschlagen darf.
Der Weg dahin, dass Dinge irgendwann automatisch und vielleicht auch mit Leichtigkeit passieren, ist allerdings alles andere als leicht und vor allem mit viel persönlicher Arbeit verbunden. Die alten Alchemisten haben die menschliche Entwicklung in verschiedene Phasen unterteilt: Nigredo, Rubedo und Albedo. Nigredo ist dabei die Phase wo der Mensch sich durch die Überwindung von Hindernissen entwickelt. Dies entspricht auch dem Abbau von Karma in manch spiritueller Tradition oder der Begegnung mit Saturn, der in der astrologischen Tradition als der Hüter der Schwelle betrachtet wird. Rubedo hingegen ist die Phase wo man durch gute Gelegenheiten und Fügungen wachsen und reifen darf. Denn das sogenannte “Gesetz der Anziehung” wirkt nur dann, wenn das Unterbewusstsein nicht mehr auf Selbstzerstörung programmiert ist. Bis dahin zeigt es sich nicht selten als “Gesetz der Abstoßung”- insbesondere für die intimsten Herzenswünsche. Albedo hingegen ist dann der Gipfel menschlicher Evolution. Manche Traditionen nennen diesen Zustand erleuchtet, doch im Lichte der Integralen Evolution ist das noch zu wenig, da die Erleuchtung die höchste Stufe eines geistigen oder Bewusstseinszustandes sein soll. Körperlichkeit und emotionale Bedürfnisse sind hierbei nicht inbegriffen, sondern in vielen Fällen sogar bewusst weg transzendiert. Im Kontext der Integralen Evolution ist Albedo mithin eine vollständige Verzahnung aller unserer Ebenen, also dass, was nach der vollständigen Reife an Entwicklung noch passiert. Dabei kann es sich meiner Meinung nach nur um die Möglichkeit des vollen Selbstausdruckes handeln.
Das Paradies kommt nicht von alleine
Traditionellerweise wird “Leben in Fülle” mit Vorstellungen des Paradieses oder einem vergleichbaren Jenseits verbunden. Allerdings gehen viele Menschen davon aus, dass sie irgendwann auf magische Weise ins Paradies kommen, wenn sie sich an religiöse Regeln halten. Manch andere erliegen dem Zynismus und meinen, sie müssten sich das Paradies gewaltsam erschaffen. Während die einen durch religiöse oder esoterische Glaubenssystemen auf Erlösung hoffen und denken mit Licht und Liebe zur Erfüllung zu kommen, gestaltet eine kleine Elite sich die Welt auf Kosten anderer wie sie ihr gefällt (nämlich oben in der Hackordnung). Erstere nutzen sogenanntes “spiritual bypassing” um Ihre negativen Gefühle abzuspalten, was mittels ernst betriebener Spiritualität nicht möglich ist, denn wo Licht ist, ist auch Hitze.18Masters, Spiritual Bypassing: When Spirituality Disconnects Us from What Really Matters, 2010, Kindle Position S.3 Nach all dem hier gesagten sollte klar sein, dass Integrale Evolution einfach nicht möglich ist, solange davon ausgegangen wird, dass irgend eine spirituelle Praxis oder ein spiritueller Glaube einen jemals von Leid befreien wird. Man kann nur selber sein Leid transformieren, abnehmen kann einem das keiner. Die Mächtigen dieser Welt hingegen perpetuieren negative symbolische Verstrickungsmuster von Über- und Unterordnung,19Ruppert, Symbiose und Autonomie, 2017, S. 59 indem sie durch Herrschaft Ihre eigentlichen Ohnmachtsgefühle versuchen abzuwehren. Das eigentliche Problem wird so natürlich auch nicht gelöst.
Integrale Evolution kann nicht statt finden, wenn man seine Themen vermeidet, die sehr wahrscheinlich von Unreife und mangelnder Autonomie zeugen. Wie dieser Weg der nicht-Vermeidung aussehen könnte, lesen Sie auf der nächsten Seite.
Bildquelle: Jon ‘ShakataGaNai’ Davis, Wikipedia