Selbstregulation und Reifung
Reife
Die Definition von Reife ist die Vollendung eines physischen oder geistigen Wachstumsprozesses.
Im Sinne der Integralen Evolution bedeutet Reife, dass alle Regelsysteme im Umfang ihrer zugewiesenen Aufgabe voll funktionsfähig sind. Der Umfang der Aufgabe wird durch unseren menschlichen Bauplan definiert, der immer auch eine Version für die optimale Funktion beinhaltet.
Reife bedeutet auch, dass wir Meister unserer Anlagen geworden sind. Wir können nun die volle Bandbreite unserer Möglichkeiten verwenden und diese den Umständen entprechend angemessen einsetzen. Um jedoch adäquat auf die Umwelt reagieren zu können und unsere Gaben nach außen geben zu können, muss zunächst sicher gestellt sein, dass uns die Umwelt nicht schach-matt setzt, bevor wir reagieren können.
Selbstregulation
Ein wesentlicher Anteil an der Reifung eines Menschen übernimmt die innere Selbstregulation. Dies ist ein Prozess, bei welchen ein System seine Funktion selbst anpasst.
Selbstregulation gibt es auf rein biologischer Ebene und wird dort Homöostase genannt. Homöostasefähigkeit bewirkt, dass uns das Blut nicht aus dem Kopf sackt, wenn wir vom Liegen aufstehen oder anfangen zu schwitzen, wenn es warm wird. Oder Hunger bekommen, wenn unser Blutzuckerspiegel sinkt.
Psychische Selbstregulation gibt es aber auch. Hier geht es um die Fähigkeit des Selbst seine eigenen Reaktionen oder inneren Zustände zu verändern.
Dies äußert sich auf verschiedene Weise1Baumerster et al., Self-Regulation and the Executive Function: The Self as Controlling Agent in A. W. Kruglanski & E.T. Higgins, Social psychology: Handbook of basic principles :
- Das Selbst ersetzt eine Reaktion oder ein Verhalten mit einer weniger häufigen aber erwünschteren Reaktion – man möchte lieber faul sein, sieht aber, dass Sport für einen besser ist
- Das Selbst kann Befriedigung verzögern – Man hätte gerne ein schönes Auto, muss es aber nicht klauen um es sofort zu haben.
Was zunächst einmal recht unspektakulär klingt, hat weitreichende Konsequenzen auf das Leben des einzelnen Individuums und auch der Menschheit als Spezies, “denn die meisten sozialen und persönlichen Probleme die unsere westliche Gesellschaft betreffen enthalten einen gewissen Anteil an versagter Selbstregulation”2Baumerster et al., Self-Regulation and the Executive Function: The Self as Controlling Agent in A. W. Kruglanski & E.T. Higgins, Social psychology: Handbook of basic principles .
Konsequenzen mangelnder Selbstregulation
Mangelnde Selbstregulation bedeutet letztendlich, dass man ein Opfer seiner Regelsysteme wird. Das Selbst ist dann weder dazu in der Lage zu verstehen was im Körper passiert, noch was in der Umwelt vor sich geht. Es entsteht eine Verzerrung der Realität und der Wahrheit des eigenen Lebens.
Wie soll so Persönlichkeitsentwicklung stattfinden?
Wichtig zu verstehen ist an dieser Stelle, dass körperliche und psychische Selbstregulation sehr eng miteinander verbunden sind, bzw. eine Einheit sein sollten. Doch genau das ist selten der Fall.
Was bei einer dissoziierten statt integrierten Einheit von Körper und Psyche passiert findet dann einen erstaunlich universalen Ausdruck im Leben eines Menschen:
“Der Preis, den man zahlt, wenn man die Botschaften des Körpers ignoriert oder verzerrt, äußert sich in der Unfähigkeit zu ermitteln was für einen wirklich gefährlich oder schädlich ist, und, was genaus so schlimm ist, was sicher und nährend ist. Selbstregulation hängt von einerm freundlichen Verhältnis zu seinem Körper ab. Ohne dieses Verhältnis müsste man sich von externer Regulation abhängig machen – angefangen bei Medikamenten, Drogen wie Alkohol, ständigem Zuspruch oder dem zwanghaften Bedürfnis den Wünschen anderer zu entsprechen.”3Kolk, Bessel van der. The Body Keeps the Score: Mind, Brain and Body in the Transformation of Trauma (Kindle-Positionen1704-1706). Penguin Books Ltd. Kindle-Version
Es gibt natürlich unterschiedliche Grade von Störungen in der Selbstregulation. Menschen mit sehr starken Störungen in der Selbstregulation können nicht an einem normalen sozialen und emotionalen Leben teilhaben, sie sind tatsächlich wie Kinder in einem erwachsenen Körper und müssen dementsprechend betreut werden.
Hoch funktional und doch defizitär
Es ist jedoch nicht klug darauf zu schließen, dass von außen gesehen erfolgreiche Menschen keine Probleme mit der Selbstregulation hätten. Ganz im Gegenteil. Es handelt sich hierbei meist um “hochfunktionale”4Begriff geht auf die Psychologin und Autorin Lisa Schwarz zurück Individuen die es geschafft haben einseitige Begabungsprofile zu entwickeln um die Lücken in ihrer Evolutionsgeschichte zu kompensieren.5Meyer-König, Homöopathisches Bonding II, S. 18
Doch einseitige Begabungsprofile fordern ihren Preis, nämlich den der integralen Evolution mit Möglichkeit zur alchemistischen Verwandlung. Leider wird Hochfunktionalität allzu oft mit dem Gefühl eines selbst bestimmten Lebens verwechselt, während im Grunde das Leben einen lebt und nicht umgekehrt. Ein solches Leben geht früher oder später mit einem Gefühl von Sinnlosigkeit einher. Wird dieses Gefühl dann nicht bewusst zugelassen, geht die Suche im Außen, wie oben eben beschrieben wurde, weiter und die Ursache des eigentlichen Problems wird weder erkannt noch behoben.
Reifung und Glücklichsein bedingen sich gegenseitig
Wer zunächst einmal zum Ziel hat einfach “nur” mal glücklich zu sein um sich dann später um seine Persönlichkeitsentwicklung zu kümmern, kommt leider auch nicht an einer reifen Selbstregulation vorbei.
Zwei Themen werden gemeinhin mit dem Thema Glücksempfinden verbunden: die Möglichkeit sich sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten und glückliche Beziehungen zu seinen Mitmenschen zu pflegen. Insbesondere romantische und sexuelle Partnerschaften stehen dabei im Vordergrund.
Die Möglichkeit sich sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten ist schon einmal ein sehr schwieriges Unterfangen, wenn man Opfer seiner Regelsysteme wird.
Doch auch wirklich erfüllende Beziehungen sind im Grunde bei fehlender Selbstregulation unmöglich. Grund dafür ist die Schwierigkeit authentisch in den Kontakt zu treten, weil die dafür zuständige Gehirnschicht sich noch nicht entwickelt hat (nämlich die neomammalische, wie bereits beschrieben wurde). Kontakt kann nur entstehen, wo Austausch wirklich möglich ist. Kommunikation ist nur möglich solange wir nicht von unserem Reptiliengehirn aus agieren, also mit Flucht (=Rückzug), Kampf oder auch totstellen. Denn sobald sich das System entweder vom Tode bedroht fühlt oder von Instinkten wie Wut, Verlangen, Angst oder sexueller Lust übermannt wird, verliert sich die Stimme der Vernunft schnell.6Kolk, Bessel van der. The Body Keeps the Score: Mind, Brain and Body in the Transformation of Trauma (Kindle-Positionen1115-1116). Penguin Books Ltd. Kindle-Version. Doch der neomammalische Teil unseres Gehirn muss sich ja erst entwickeln. Es erklärt sich fast von selbst, dass dies dann geschieht, wenn die Fähigkeit zur Selbstregulation abgeschlossen ist. Im Chaos der Regelsysteme ist Kommunikationsfähigkeit oft nur unvollständig ausgebildet.
Einsamkeit
Der Begriff für diesen zwischenmenschlichen Zustand ist Einsamkeit. Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Somit finden sich Menschen unter Umständen in Konstrukten wieder, die äußerlich einer Beziehung ähneln, innerlich jedoch wenig mit Erfüllung zu tun haben.
Solch unerfüllte Beziehungen können sich u.a. folgendermaßen äußern7frei nach Erich Fromm, Die Kunst des Liebens in Meyer-König, Säure Brevier
- Die Partnerschaft wird als Schicksalsgemeinschaft zum Bollwerk gegen die Einsamkeit, sexuelle Benefits gibt es dazu
- Im Partner wird eine Ersatzmutter oder ein Ersatzvater gesucht
- Partner bleiben emotional distanziert zueinander
- Menschen verbleiben in einer kindlichen Ersatzwelt und wollen Partnerschaften gar nicht erst eingehen
- Das Gegenüber wird vergöttert, der Partner geht in ihm auf, statt sich in ihm zu finden (Verschmelzung)
- Es wird nach Ersatzbefriedigungen in der Phantasie gesucht, indem Filme, Romane oder Pornographie konsumiert werden
- Eigene Fehler werden auf den Partner projiziert, man ist mit diesem nie zufrieden, will ihn ständig verändern
- Es wird der Phantasie nachgehangen, dass die perfekte Liebe ohne Meinungsverschiedenheiten auskomme
Reifung und Gesundheit bedingen sich gegenseitig
Doch nicht nur das Glück braucht eine ausgereifte Selbstregulation. Auch die körperliche Gesundheit braucht sie. Gemeint ist dabei nicht alleine die Fähigkeit zur physischen Homöostase. Schließlich stehen Körper und Emotionen nicht nebeneiander, sondern sind miteinander verbunden, mag auch beides nicht wirklich gut integriert sein.
Körperliche Probleme entstehen häufig, wenn für Emotionen keine Worte zur Verfügung stehen. Der Fachausdruck dafür ist Alexithymie. Dies ist ein sehr verbreitetes Phänomen. Alexithymiker “tendieren dazu Emotionen als physische Probleme zu registrieren statt als Signale, dass etwas gerade ihre Aufmerksamkeit braucht. Statt sich wütend oder traurig zu fühlen, erfahren sie Muskelschmerzen, Verdauungsbeschwerden oder andere Symptome für die es keine Erklärung gibt”.8Kolk, Bessel van der. The Body Keeps the Score: Mind, Brain and Body in the Transformation of Trauma (Kindle-Positionen1732-1734). Penguin Books Ltd. Kindle-Version
Gemeint sind hier jedoch nicht nur psychosomatische oder funktionelle Beschwerden. Schließlich führt ein solches Verhalten auch zu Entscheidungen über die Lebensweise, die dann zu Fehlernährung, Überarbeitung, Drogenkonsum etc. führen können, die früher oder später den Körper auch organisch schäden können.
Abschließend zum Thema Reife- und Regulationsstörung kann man festhalten: Solange man seinen Regelsystemen ausgeliefert ist, sind Persönlichkeitsenwicklung, Glück und körperliche Gesundheit nicht sehr wahrscheinlich. Mit Reife und Selbstregulation kann man sich seinen Körper und die Welt erst zum Untertan machen. Es ist im Prinzip das erste Mal, wo Evolution wirklich integral wird.
Doch wie kommt man dahin sich seine Regelsysteme zum Untertan zu machen?
Indem man Entwicklungsreihenfolgen und Befehlshierarchien in ihrer Evolution beachtet.
Entwicklungsreihenfolgen
Wie bereits erläutert, geht die Evolution nach einem genetisch gesteuerten Baukastensystem vor, indem Schritte aufeiannder aufbauen und einander gleichzeitig einschließen.
Die grobe Reihenfolge der Entwicklung der Regelsysteme ist dabei folgende:
Babys können sich bekanntlich in jeder Hinsicht schlecht selber regulieren, indem sie ihre Ausscheidungen nicht steuern können noch sich selber ernähren können. Der physische Körper muss zu allererst eine gewisse Grundreife entwickeln, damit es mit den Emotionen weiter gehen kann. Erst wenn Kinder gelernt haben zu fühlen, kann sich bei ihnen der Verstand entwickeln. Natürlich findet die Reifung des Körpers z.B. noch weiter während der emotionalen und mentalen Entwicklung statt, wie die Pubertät beweist. Durch die Vernetzung der Regelsysteme kommt es natürlich auch zu parallelen Entwicklungen. Dennoch muss der Körper reif genug sein, damit die emotionale Entwicklung optimal verläuft. Die spirituelle Entwicklung ist dann die Krönung der gesamten Entwicklung. Mit spiritueller Entwicklung ist hier die eigentliche Persönlichkeitsentwicklung gemeint, die Verkörperung unseres höchsten Potentials.
Befehlshierarchien
Befehlshierarchien sind in mehrerlei Hinsicht wichtig.
In jeder Gemeinschaft bedarf es Organisation. In diesem Fall geht es um die Organisation von Zellen in unserem Körper. Und jede Organisaton braucht Führung. In unserem Körper führt das Gehirn. Sein Rang ergibt sich durch die Aufgabe des Nervensystems Kontaktfähigkeit herstellen zu können. Durch dessen Datenautobahn kann auch noch die tiefste im Körper verborgene Zelle am Geschehen der Außenwelt teilnehmen. Demenstprechend müssen sich dem Gehirn alle anderen Regelsysteme unterordnen9Lipton, Intelligente Zellen, S. 129
Energie wiederum macht Leben erst möglich. Daher sind die Mitochondrien als Energieproduzenten der Zelle der heimliche Chef im Körper.
Das Hormonsystem wiederum ist dafür zuständig Energie zu kanalisieren und notfalls zu rationieren. Es reagiert dabei auf Befehle des Nervensystems und der Mitochondrien u.a. Hormone sind sozusagen der Ausführende Arm der Chefetage und haben damit im Körper eine ziemlich starke Position.
Sie regieren auch mit starkem Arm die Polizei des Körpers, das Immunsystem. Dieses ist dafür zuständig das innere des Körpers vor Bedrohungen von außen zu schützen.
Schlussendlich sind da natürlich auch noch alle anderen Untertanen: Verdauungs- und Ausscheidungssysteme, die Haut, das Mukuloskeletale System. Sie alle spielen natürlich eine Rolle
Will man allerdings als Mensch wirklich etwas werden oder bewirken, kommt man an seinem Nervensystem nicht vorbei.
Doch auch das mächtige Nervensystem wäre nichts, wenn seine Zellen, wie alle anderen Zellen des Körpers auch, nicht genügend Energie hätte. Mehr dazu hier.
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