Erwachsen ist man dann, wenn man Verantwortung für sich und seine Umwelt übernimmt und auf eigenen Beinen steht. Rein gesetzlich ist dieser Prozess in Deutschland mit 18 Jahren abgeschlossen. Der Gesetzgeber hat beschlossen, dass wir ab diesem Alter fähig sind in der Gesellschaft so zu funktionieren, dass wir uns selber versorgen können und unsere eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Wir müssten eigentlich ab diesem Alter alles haben, um alleine glücklich zu werden. Warum sind also so viele Menschen auch dann, wenn es ihnen materiell an nichts fehlt, im Grunde ihres Herzens unglücklich bis zu ihrem Lebensende?

Meistens liegt es daran, dass uns etwas fehlt, was uns nicht bewusst ist. Dieses „etwas“ sind sehr häufig die Bedürfnisse unseres verletzten „inneren Kindes“. Menschen sind von Geburt an darauf angewiesen in ihrem Wesen erkannt, gelassen und angenommen zu werden. Geschieht dies nicht, spricht man heutzutage in therapeutischen Kreisen gerne von einem verletzten „inneren Kind“. Dieses verletzte innere Kind ist eine weitgehend verdrängte emotionale und mentale Erinnerung an die wesentlichen Bedürfnisse, die einem als Kind nicht erfüllt worden sind, wodurch Traumata entstanden sind. Ausdrücklich missbräuchliche Situationen verstärken diese Verletzung natürlich noch.

Verdrängt sind diese Erinnerungen aus mehreren Gründen. Die Verdrängung ist dabei zunächst ein Mechanismus, der uns als Mensch und Spezies das Überleben sichert. In vielen Fällen, sorgen unsere Selbstheilungskräfte nach und nach dafür, dass dann das verdrängte Ereignis durch Träume oder positive Erfahrungen geheilt wird. Wenn ein Ereignis jedoch auch nach dem Verstreichen des traumatischen Ereignisses so schmerzhaft ist, dass es die Funktionsfähigkeit des Menschen gefährden würde, verbleibt das Ereignis in der Verdrängung. Manchmal ein Leben lang. Die Kehrseite dieser nicht verarbeiten verdrängten Gefühle und Gedanken ist leider dann jedoch die, dass die Gefühle und Gedanken weiter da sind. Sie bestehen in unserem Unterbewusstsein weiter und kontrollieren so unsere täglichen Gedanken und Gefühle, ohne dass uns die Ursache unserer Reaktionsmuster bekannt wäre. Wir wissen dann gar nicht mehr, warum wir gerade traurig, wütend, verzweifelt oder leer sind. Oder wir wissen zumindest genau, dass die aktuellen Gefühle letztendlich nichts mit einer real erlebten Situation zu tun haben, die Situation hat diese alten Gefühle lediglich ausgelöst.

Bei den Verletzungen des inneren Kindes kommen noch zwei Faktoren erschwerend hinzu. Erstens betreffen diese Verletzungen immer wesentliche Gefühle innerer Geborgenheit und Zufriedenheit. Zweitens sind die verletzten Gefühle zu einem Zeitraum entstanden, an den wir uns bewusst nicht mehr erinnern können. Drittens sind die verdrängten Gefühle zu ihrem Entstehungszeitpunkt rein emotional als existenzvernichtend empfunden worden. Das kommt daher, dass wir als Säuglinge und Kleinkinder jeden Mangel an Zuwendung instinktiv mit der (manchmal leider realen) Möglichkeit verbunden haben zu verhungern. Die Eltern waren unsere Welt. Wollten wir überleben, durfte die Versorgung durch unsere Eltern auf keinen Fall zusammen brechen.

Körperlich sind wir als Babies schwach. Unser Instinkt ist jedoch von Anfang an voll ausgeprägt. Dieser Instinkt bewegt uns also sehr früh dazu uns so zu verhalten, wie wir denken die benötigte Aufmerksamkeit zu bekommen um zu überleben- körperlich wie emotional.

Wir fangen also an verschiedenste Verhaltensweisen zu erproben, um unsere Eltern dadurch in unserem Sinne zu manipulieren:

  • Wir werden unauffällig
  • Wir werden gefällig
  • Wir buhlen um Aufmerksamkeit
  • Wir sind ständig krank
  • Später fangen wir an zu helfen
  • Wir strengen uns an, machen alles für ein Lob, erschöpfen uns sogar bis zum Burn-out
  • Wir sorgen uns emotional bis zu dem Punkt um unsere Eltern, wo diese zum Kind werden und wir für ihr Wohlbefinden die Verantwortung übernehmen

Teilweise sind diese Strategien ja auch erfolgreich, weil es uns mit ihnen mit unseren Eltern immer noch besser ging, als ohne. Deswegen führen wir diese Strategien meist unbewusst auch weiter fort, wenn wir erwachsen werden. Wir projizieren sie dann aber immer mehr auch auf unsere nun wachsende Welt, unsere Umwelt. Besonders der Partner ist später eine Projektionsfläche für alle unsere unbefriedigten Wünsche und Bedürfnisse. Da dieser Vorgang jedoch weitestgehend unbewusst geschieht, sind wir jedoch nicht in der Lage zu erkennen, dass unsere Umwelt nun nicht mehr über unser Leben und Tod entscheidet. Der Schmerz des damaligen Erlebens sorgt dafür, dass dessen Ursprung weiter verdrängt wird. Tragischerweise können wir dann auch nicht erkennen, dass all unsere reaktiven anpassenden Verhaltensweisen nie wirklich dazu geführt haben, dass wir erkannt, gesehen und gelassen wurden. Wir haben lediglich überlebt.

Aus der Gesamtheit dieses unbewussten Prozesses entstehen sekundär mit der Zeit oft noch weitere Beschwerden:

Wir können unsere Bedürfnisse nicht mehr erkennen.

Wir können nicht mehr „nein“ sagen und für unsere Bedürfnisse einstehen, selbst dann, wenn wir sie erkennen.

Wir sind gereizt, traurig und leer, weil die unterdrückten Gefühle ja noch da sind.

Wir sind nicht mehr bindungsfähig, weil wir Angst haben die Kontrolle aufzugeben und wieder verletzlich zu werden.

Wir suchen uns Ersatzbefriedigungen wie Sex, Arbeit, Essen, Drogen und Ruhm, um das innere Loch zu stopfen.

Wir haben Beziehungen, in denen der Partner scheinbar nie die eigenen Bedürfnisse erfüllt.

Wir ärgern uns darüber, dass unsere Partner so unsensibel sind und ärgern uns, dass sie einem die Wünsche nicht von den Augen ablesen. Dabei können wir Bedürfnisse oft gar nicht mehr adäquat formulieren.

Wir suchen uns Partner, die aus einer ähnlichen Geschichte heraus tatsächlich nicht in der Lage sind uns Nähe und Wärme entgegen zu bringen.

In der Tiefe sind wir resigniert und der festen Überzeugung, dass wir nie glücklich sein werden.

Wir halten uns zutiefst für wertlos. Denn warum hätten uns unsere Eltern ansonsten so mit Vernachlässigung bestraft? Da muss doch etwas falsch mit uns sein, oder?

Und zu guter Letzt  kriegen wir das alles auch noch von unserer Umwelt ständig gespiegelt. Nie sind wir gut genug. Nie sind die anderen gut genug. Nie ist etwas gut genug.

In Partnerschaften entsteht der Kampf der Geschlechter.

Und das alles, weil die Erinnerung an die als Säugling bedrohte Welt uns noch so tief in den Zellen steckt, dass wir das Gefühl haben nicht mehr funktionieren zu können, wenn wir uns mit den dahinter liegenden Gefühlen konfrontieren.

Eine Heilung kann aber leider nur dann stattfinden, wenn wir uns diesen alten Gefühlen stellen. Langsam und behutsam. Unsere Verdauung ist uns dabei in jeglicher Hinsicht ein gutes Beispiel. Nicht zu viel auf einmal, das Bearbeitete wird verdaut, die Reste ausgeschieden. Irgendwann verschmilzt dann das innere Kind mit unseren erwachsenen Bedürfnissen. Wir müssen nicht mehr so tun, als ob Gefühle etwas für Weicheier oder Träumer wären. Wir lernen dann auch, dass auch schlechte Gefühle ihren Grund haben und vor allem sein dürfen.

Als Spezies sind wir ohne unsere Bedürfnisse nach Nähe, Zuwendung und des Erkannt-werdens,  wie oben beschrieben, zwar sehr wohl überlebensfähig. Glücklich werden wir so jedoch nicht. Ohne das Eingeständnis dieser Gefühle uns selber gegenüber wird der Seelenhunger nur immer größer. Wir sind immer unerfüllter und unbefriedigter. Insbesondere der Traumpartner wird dann heiß ersehnt. Leider ziehen wir in dieser Mangelsituation den Traumpartner gar nicht erst an, oder wir haben bald das Gefühl trotz anfänglicher Liebe nebeneinander emotional zu verhungern. Oft lassen wir unsere Unzufriedenheit dann noch zusätzlich an unseren menschlichen Beziehungen aus, was die Sache noch verschlimmert. Andere meiden Beziehungen einfach ganz.

Erlangen wir aber über die Heilung unseres verletzten inneren Kindes wieder das Gefühl Macht über unsere Welt zu haben, kehren sich alle diese Mechanismen um. Unsere Persönlichkeit fängt an zu strahlen. Wir reagieren nicht mehr nur, sondern agieren. Dadurch „ziehen“ wir plötzlich auch ganz andere Menschen und Situationen in unser Leben.  Alle Ersatzbefriedigungen werden als solche erkannt und meist abgelegt. Plötzlich stehen uns Ressourcen zur Verfügung, an die wir nie zu Träumen wagten. Wir können nun wirklich für uns stehen und einstehen.

Im Gegenzug zu einer weit verbreiteten Überzeugung macht uns die Annahme des verletzten inneren Kindes nicht schwach, sondern stark. Wer die Verantwortung für alle seine Anteile übernimmt, ist automatisch nicht mehr abhängig und damit unreif oder kindisch. Mit anderen Worten: Wir werden durch unser inneres Kind erst wirklich erwachsen.

Bild: Olivier Bommel, Wikipedia