Persistierende frühkindliche Reflexe

Das erwachsene Nervensystem sollte sich innerhalb der ersten sechs bis zwölf Monate langsam aus frühkindlichen Reflexen ausbilden. Werden diese frühkindlichen Reflexe nicht abgebaut (z.B. durch hormonelle Verschiebungen, die das Kind im Mutterleib erfährt oder durch mangelnde Bindung mit der Mutter), bleibt das Nervensystem unreif.

Dies führt einerseits dazu, dass willentliche Reaktionen nicht richtig vom Körper ausgeführt werden können, andererseits ist auch die Entwicklung erwachsener Reflexe gestört. Reflexe sind automatisierte, unwillentlich und gleichartig ablaufende Antworten auf bestimmte Reize. Sie regulieren u.a. folgende Themenbereiche:

  • Schreckreaktion
  • Gleichgewichtssinn
  • Orientierungssinn
  • Die Unterscheidung von Rechts und Links
  • Räumliches Sehen
  • Die Wahrnehmung von Berührung
  • Die Steuerung von Muskeln (Kontraktion)
  • Die Koordinierung von Bewegungen (Feinmotorik)

Störungen der erwachsenen Reflexe bedeuten einerseits immer, dass das Gehirn den unter optimalen Umständen automatisch ablaufenden Prozess willentlich ausgleichen muss. Der betroffene Mensch muss dann plötzlich überlegen, wo rechts und links ist, es kommt nicht einfach automatisch. Diese extra Rechenleistung des Gehirns kann eine riesige Zusatzbelastung für das Gehirn bedeuten, der „Arbeitsspeicher“ ist in Gegensatz zu dem Arbeitsspeicher nicht betroffener Menschen ständig am Anschlag. Da diese fehlerhaft ausgeführten erwachsenen Reflexe in der Regel oder zumindest zeitweise nicht vollständig kompensiert werden können, müssen die Nebennieren biochemisch regulierend eingreifen, indem die Stresshormone dafür sorgen, dass das System als Ganzes leistungsfähig bleibt. So kann z.B. ein fehlender Gleichgewichtssinn zu Schwindel führen, der dann wieder durch einen Adrenalin- oder Kortisoleinschuss dazu führt, dass man diesen „ausblenden“ kann. Menschen mit unterentwickelten erwachsenen Reflexen werden sehr wahrscheinlich hormonelle Probleme bekommen, da die Nebennieren ständig das Nervensystem kompensieren und sich irgendwann erschöpfen. Erschwerend hinzu kommt, dass der Mensch im Laufe des Lebens fehlende erwachsene Reflexe mit alternativen Nervenverknüpfungen kompensiert, die durch Umstellungen im Hormonsystem zumindest teilweise wieder zerstört werden können (Burn-out, Pubertät, stressige Lebenskrisen, Wechseljahre, Schwangerschaften). Dadurch kann das Fehlen der erwachsenen Reflexe für den Betroffenen unter Umständen zum ersten Mal bemerkt werden. Er kann dann plötzlich Dinge nicht mehr, die noch Wochen zuvor als leichter oder gar unproblematisch empfunden wurden, z.B. das Gleichgewicht zu halten. So kann man auch quasi über Nacht zum Legastheniker werden.

Da die Betroffenen oft so daran gewöhnt sind fehlende erwachsene Reflexe zu kompensieren, ist ihnen das Problem nicht bewusst. Oder sie gehen davon aus, dass manche Dinge bei ihnen einfach „so sind“ (ich kann halt keine Ballsportarten) ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass bestimmte Schwierigkeiten auf neurologischen Fehlentwicklungen basieren. Typische Auswirkungen fehlender erwachsener Reflexe können u.a. sein:

  • Mangelnde Fähigkeit des Nervensystems sich selbst nach kleinen Stresssituationen „runter“ zu regulieren, die Stresssituation wirkt noch Stunden nach
  • Überforderung bei Multitasking
  • Chronische Erschöpfung
  • Entgleistes Immunsystem, evtl. ständige Infekte
  • Hyperaktivität bei Kindern und Erwachsenen
  • Konzentrationsstörungen
  • Ungeschicklichkeit, evtl. auch nur auf einigen Gebieten (Schwimmen ist o.k., Ballsportarten nicht)
  • Schwindel
  • Sehstörungen
  • Abneigung größerer Menschenmengen
  • Abneigung gegen Berührung, manchmal verstärkt an bestimmten Körperstellen
  • Schwierigkeiten rechts und links zu unterscheiden, die Uhr zu lesen, Bewegungen spiegelverkehrt zu kopieren
  • Schwierigkeiten mit der Temperaturregulierung
  • Störungen des Sexualverhaltens (Überempfindlichkeit oder Taubheit der Genitalien, Berührungsempfindlichkeit)
  • Erhöhtes Schlafbedürfnis
  • Schwierigkeiten Reihenfolgen einzuhalten (Organisation des Alltags, Probleme beim Erlernen von Choreographien, Schwierigkeiten beim Auswendig Lernen)
  • Legasthenie (Lese- oder Rechtschreibschwäche), Dyskalkulie (Rechenschwäche)
  • Schwierigkeiten beim Erlernen des Schreibens (u.a. durch fehlende Motorik um den Stift zu halten)
  • Mangelnder Orientierungssinn
  • Verkürzung einzelner Muskelgruppen (dadurch „Steifigkeit“ oder „Beckenschiefstand“)
  • Störungen des Bindungsverhaltens sowie andere sekundäre psychologische Störungen wie Depression, dissoziiertes Verhalten etc.
  • Allgemeines Gefühl der Überforderung, man versucht sich vor Situationen (oft unbewusst) zu schützen, die einen “stressen” würden. Dies kann sich in einer allgemeinen Lebensangst äußern, in sozialem Rückzugsverhalten, Abneigung gegen Menschenmengen, öffentliche Verkehrsmittel aber auch von Prüfungssituationen oder Situationen, die Disziplin oder einen geregelten Alltag erfordern (Ausbildung, Studium, Bürojob u.a.).

Während Fehlentwicklungen des Nervensystems in der breiten Bevölkerung und sogar in medizinischen und psychologischen Fachkreisen wenig bekannt sind, sind sie dennoch keine Ausnahme, die nur wenige Menschen betreffen. Es wird davon ausgegangen, dass in Regelklassen in der Schule 40% der Kinder persistierende frühkindliche Reflexe haben, in Sonderschulklassen sogar bis zu 94%! Viele Sonderschüler, denen mangelnde Intelligenz bescheinigt wurde, haben lediglich ein Problem des Nervensystems, welches innerhalb weniger Monate behoben werden könnte. Es gibt sogar Beobachtungen, dass gerade hochbegabte Kinder besonders dazu neigen ihre frühkindlichen Reflexe nicht abzubauen.

Es gibt Methoden, die von Neurobiologen entwickelt wurden, um das Nervensystem “nachreifen” zu lassen. Die Therapie gehört zum Teilgebiet der Ergotherapie und besteht aus täglichen Übungssätzen, die in einer bestimmten Reihenfolge die betroffenen frühkindlichen Reflexe abbauen, wodurch das Nervensystem nachreift und sich in seiner erwachsenen Form ausbilden kann.

Ein gutes Buch zu diesen Thema:

“Greifen und BeGreifen: Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen” von Sally Goddard Blythe und Thake Hansen-Lauff

Bei Verdacht auf persistierende frühkindliche Reflexe kann eine individuelle Diagnose und Therapie durch einen ausgebildeten Therapeuten erfolgen.

Trauma

Hinzu kommt, dass auch ein gut ausgeprägtes erwachsenes Nervensystem traumatisiert sein kann. Traumata beschränken sich dabei nicht, wie häufig angenommen, auf von dem Individuum als schrecklich empfundene Ereignisse wie Katastrophen, Vergewaltigungen etc. Trauma im neurologischen Sinne ist jede Aktivierung des Nervensystems, die nicht durch eine Selbstregulierung des Stoffwechsels wieder ausgeglichen werden kann. Das System kann nicht mehr „entladen“. Verglichen mit dem Stromnetz eines Hauses ist Trauma mit einer Überladung des Nervensystems zu vergleichen, während bei fehlenden erwachsenen Reflexen das Stromnetz bereits zu schwach für eine eigentlich normale Stromladung ist.

Schon recht „triviale“ Ereignisse können für das Nervensystem traumatisch sein. Dazu zählen leichte Stürze, Verkehrsunfälle ohne körperliche Verletzungen, Operationen (mit Narkose) u.a. Auch Entwicklungstraumata, wie fehlende Aufmerksamkeit durch die Eltern, symbiotische Verhältnisse etc. können sich im Nervensystem festsetzen. Die Symptome einer Traumatisierung reichen von extremer Empfindlichkeit, Überaktivität, Scham und mangelndem Selbstwertgefühl bis zu Gedächtnisverlust u.a. Langzeitfolgen können z.B. die Unfähigkeit Verpflichtungen einzugehen, chronische Müdigkeit oder übermäßige Scheu sein (nach Peter E. Levine).

Mehr Informationen zur Entstehung von Traumata finden Sie in den Büchern des Neurobiologen Peter E Levine, z.B. “Sprache ohne Worte” oder “Vom Trauma befreien“. 

Da das Nervensystem und das Hormonsystem eine gemeinsame „Schnittstelle“, das Adrenalin, haben, kommt es bei Traumatisierungen nicht nur kurzfristig zur Aktivierung des Stressstoffwechsels. Da eine Aktivierung des Nervensystems u.a. mit einer gesteigerten Empfindlichkeit einhergeht, muss das Kortisol früher oder später dafür sorgen, dass das System keinen „Kurzschluss“ bekommt, indem es die Empfindlichkeit des Körpers, der Sinne und der Psyche durch eine gleichzeitige Drosselung der Schilddrüse herabsetzt (Stressstoffwechsel und langsamer Stoffwechsel). So kann es passieren, dass eigentlich vormals überaktivierte Traumaopfer durch dieses „kaltstellen“ teilnahmslos und in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt wirken. Auch der Zugang und die Verarbeitung der eigenen Gefühle ist dann erschwert.

Die Vermutung liegt nahe, dass ein Individuum, welches unreife erwachsene Reflexe aufweist, besonders anfällig für Traumata ist.

Mehr zum Thema Psyche und Hormone finden Sie hier.

Titelbild:By MdE – own photo, CC BY-SA 3.0, Wikipedia